Ein star des Boulevards
HAMBURG/MADRID/MZ. Beinahe kein Zweifel, sie machen noch Musik! Tom Kaulitz, Gitarrist der Teenieband Tokio Hotel, träumt dieser Tage jedenfalls gerade von einem kleinen Handknipser, der aus jedem Stück Plastik ein Gitarrenplektrum stanzt. "Brauche ich unbedingt", erklärt der 21-Jährige dazu in seinem Internetblog.
Also spielt er wohl noch Gitarre. Also gibt es wohl auch die Band noch, die vor fünf Jahren mit der Gewalt eines "Monsuns" (Liedtitel) in die Welt einer ganzen Mädchen-Generation brach. Binnen weniger Wochen war das Quartett aus Magdeburg, angeführt von Toms Bruder Bill und geleitet vom Musikproduzenten Peter Hoffmann, von der Kleinstadtcombo zum Hitparadenstürmer geworden. Die unter Umsatzeinbrüchen leidende Plattenindustrie war dankbar. Endlich eine Band, deren Fans Alben wieder im Laden kauften, statt sie aus dem Internet zu laden! Es folgten ausverkaufte Konzerte, Teenie-Hysterie wie bei Take That und ein über das Internet geführter Kampf zwischen Fans und Verächtern, der an die bissigen Glaubenskriege von Beatles- und Stones-Anhängern vier Jahrzehnte zuvor erinnerten.
Angie hat damals gleich Position bezogen. In einem Video bat sie alle Tokio-Hotel-Hasser um Respekt für ihre Lieblingsgruppe. Die Band mache einfach gute Musik. "Ich bin jedenfalls stolz, ihr Fan zu sein", sagte die 13-Jährige, "und ich werde es für immer bleiben".
Zwei Jahre allerdings später ist alles anders. Die Lieblingsband der damaligen Mädchen-Generation ist aus den Hitparaden verschwunden. Wie auch anders. Die Fans der ersten Stunde sind fünf Jahre älter, der Sound, der Schülerinnen begeisterte, erreicht die Studentinnen nun nicht mehr. Bill Kaulitz, von Anfang das androgyne Gesicht und die Stimme der Gruppe, taucht häufiger an der Seite von Prominenten wie dem Modemacher Wolfgang Joop auf. Aus dem Hoffnungsträger der deutschsprachigen Rockmusik ist ein nur noch optisch auffälliger, weil grell geschminkter Star für den Boulevard geworden. Kaulitz wirbt als eine Art Leder-Alien verkleidet für einen Elektromarkt, er macht Schlagzeilen mit einem neuen Nasenring und ist zuletzt medienwirksam nach Los Angeles umgezogen.
Keine Themen, von denen Musikzeitschriften leben. Doch von Musik lebt auch die Gruppe nicht mehr, in der der gebürtige Hallenser Georg Listing Bass spielt. Seit vier Jahren hat es keine Single der Band auf Platz 1 geschafft, das letzte Album "Humanoid" hielt sich nur noch eine Woche auf dem Spitzenplatz. Immerhin: Eine Tour führt ab Ende des Monats durch Südamerika, wo der Exotenbonus allein volle Hallen garantiert - in Deutschland waren sie Anfang des Jahres zum Teil leer geblieben.
Doch auch dafür regnet es allerlei Preise über der Band. Nach dem "NRJ Award" gab es den "Comet" als "bester Liveact" und am Wochenende nun auch noch den "Europe Music Award" des Musiksenders MTV in der Kategorie "beste Live-Performance der Welt".
Beachtlich für eine Rockgruppe, deren aktuelle Single-Auskopplung beim Internethändler Amazon jenseits von Platz 217 000 rangiert. Bezeichnend aber für eine Musikindustrie, die auf die Herausforderung durch das Internet mit einer Offensive der groben Reize antwortet. Die New Yorker Sängerin Stefani Germanotta hat als "Lady Gaga" vorgemacht, wie sich Erfolg organisieren lässt: Es braucht nicht zwingend dauernd neue Hits, es reichen auch Skandale, Affären und schrille Auftritte, dann braucht das alte Album nur noch einen neuen Namen, und schon verkauft es sich wieder.
Eine Lektion, die die Plattenfirma von Tokio Hotel verinnerlicht hat. Drei Alben hat die Gruppe bisher eingespielt, zu kaufen gibt es die aber inzwischen in einem Dutzend Versionen. Angie allerdings, der größte Fan unter der Sonne, hat ihrer großen Liebe trotzdem abgeschworen. Der Film, in dem sie bekennt, kein Fan mehr sein zu können, ist im Internet übrigens erfolgreicher gewesen als das Musikvideo zur letzten Single der Band.
Source : http://www.mz-web.de/servlet/ContentServer?pagename=ksta/page&atype=Page&aid=987490165154&openMenu=987490165154